Guadua – der südamerikanische Bambus der Superlative
Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleiner Guadua-Halm, der gerade das Licht der Welt erblickt hat. Sie sind bloß wenige Zentimeter hoch, aber schon acht bis achtzehn Zentimeter dick und gucken wie ein Zuckerhut aus dem Erdreich. Wenn Sie genug Wasser und Sonne bekommen, wachsen Sie ab jetzt täglich bis zu 12 cm und sind so, bei guten Wachstumsbedingungen, nach nur sechs Monaten 18 bis 30 Meter hoch! In Rekordzeit schieben Sie sich teleskopartig in die Höhe, wobei Ihr Umfang immer gleich bleibt. Wenn Sie Ihre endgültige Größe erreicht haben, fangen Sie an, hart zu werden – nicht dicker und nicht dünner, sondern nur härter. Nach drei bis fünf Jahren sind Sie schließlich völlig ausgehärtet und richtig kräftig. Und genau dann könnte es passieren, dass jemand Sie mit der Machete fällt und zum Bauen verwendet…
Was ist Guadua?
In Kolumbien sind ganze Landstriche mit Guadua-Bambus überzogen. Er bildet sogenannte Guaduales, Bambushaine, die vereinzelt oder entlang von Flüssen, in Tälern, zwischen Kaffeesträuchern und neben Bananenstauden wachsen. Wegen ihres hellen Grüns kann man diese Bambusart schon von weitem erkennen, ob auf den Hochebenen oder an den Hängen der Kordilleren, der drei Gebirgszüge, die sich durch Kolumbien ziehen. Aus der frühen Kolonialzeit findet man heute noch Bezeichnungen wie Cañas gordas – Dickes Gras. Chinesische Ingenieure sollen in den neunziger Jahren herausgefunden haben, dass die Sorte Guadua der statisch belastbarste Bambus sei. Der deutsche Botaniker Karl Sigismund Kunth (1788–1850) katalogisierte ihn – unter seinem offiziellen botanischen Autorenkürzel Kunth – als Guadua Angustifolia Kunth. Er wertete viele Jahre die Guadua-Proben aus, die Aimé Bonpland und Alexander von Humboldt aus Südamerika nach Berlin und Paris gebracht hatten.
Am Anfang steht ein großes Fragezeichen:
Warum mit Bambus bauen?
Lokale Identität
Die Mehrzahl der Bauten in Äquatornähe weisen keine lokale Identität auf. Der Wunsch nach Globalisierung tritt in den Vordergrund. Vermutlich werden Lösungen zuerst außerhalb des eigenen Landes gesucht und dabei lokales Potential vergessen oder unterbewertet. Mit dieser besonderen Bambusart, aber auch mit anderen, verwandten Arten, hatte schon die Urbevölkerung im nördlichen Südamerika Bauten errichtet. Tonschalen, die bis zu 3400 Jahre alt sind, zeigen solche Gebäude, die lange vor den spanischen Eroberungszügen entstanden. Im kolumbianischen Kaffeeanbaugebiet findet man heute noch Kirchen, die vor 170-220 Jahren in ihrer Grundstruktur aus Guadua erbaut und mit Lehm ausgefacht, verputzt und dann mit Kalk geweißelt wurden.
Gegen die Überflutung durch moderne Baumaterialien konnte sich der Guadua-Bambus jedoch nicht durchsetzen. Als Baumaterial spielte er bis vor kurzem keine große Rolle. Aber das ändert sich mittlerweile zügig. Nicht nur in Kolumbien. Seitdem man sich mit ihm auseinandersetzt, findet der Bambus weltweit immer mehr Anerkennung, seine Vorteile werden erkannt und wertgeschätzt.
Bambus ist vielfältig einsetzbar
Die Rohstoffversorgung ist nachhaltig und wird ökologisch gewährleistet. Bambus wächst rasant nach und kann den immer mehr gefragten Rohstoff Holz in manchen Bereichen ersetzen, in anderen sogar übertrumpfen. Bambus kann die Palette der üblichen Baumaterialien mit seinen Charakteristika abrunden – wenn man seine Nutzung richtig angeht.
Innovative Architektursprache
Heute ist es ohne weiteres möglich, formschöne Häuser, Hallen und Brücken aus Bambus zu entwerfen, zu entwickeln und auszuführen. Es sind letztendlich Bauten aus Gras, denn Bambus ist nichts anderes als das – Riesengras aus einer magischen Welt, in der wir Menschen klein wie Ameisen erscheinen. Aber wenn wir unseren Geist öffnen und unserer Phantasie Raum lassen, entstehen Lösungen und Bauwerke von höchst innovativem Design. Weltweit realisierte Exemplare gibt es mittlerweile zu Genüge. Gehen Sie auf die Website des Fibra Award und überzeugen sich selbst. Oder informieren Sie sich im Buch GUADUA, das Riesengras (link).
Vielfalt bei der Konstruktion
Bambus ist von Asien über Afrika und Südamerika bis hin nach Australien beheimatet. Entsprechend vielseitig sind seine Arten und Unterarten. Die Halme wachsen gerade und gebogen, schief und krumm. Einige sind kleiner und dicker, andere dafür größer und dünner. Sogar in ihrer Farbe sind sie unterschiedlich. Man kann sich also die enorme Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten vorstellen, die die inhärente Natur des Materials Bambus ermöglicht. Momentan wird eine enorme Palette von einfachsten Pfosten-Riegel-Konstruktionen bis hin zu komplexen mehrstöckigen Gebäuden über Hallen aus Raumfachträgern, konstruktiven Bögen und Raum-Gitterschalen realisiert.
Nachhaltigkeit
Der Einsatz von Bambus im Bereich Ökologie und Ökonomie hilft bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung, die die Vereinten Nationen verabschiedet haben (Sustainable Development Goals, SDGs).
Mit dem Anbau von Bambus werden Wassereinzugsgebiete und vernachlässigte Landstriche wiederbelebt. Diese Pionierpflanze ist in der Lage, angrenzende Nutzpflanzen auf natürliche Weise mit Wasser zu versorgen, ist also gemäß SDG ein Muss für die neue ökologische Ausrichtung. Dazu gehört der Bambus zu den 5 Pflanzengattungen, die CO2 über Photosynthese binden und absorbieren.
Zukunft
Seit einigen Jahren wird mit Bambus erfolgreich experimentiert, um neue Produckte für zahlreiche Lebensbereiche herzustellen. Entwickelt und ausgeführt werden dekorative Schalen und Möbel bis hin zu vorgefertigten Platten und Bindern für den konstruktiven Hochbau. Und dabei sind die technischen Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Wir befinden uns erst am Anfang einer langen Reise. Das Bambuszeitalter hat begonnen! Eine gute Voraussetzung für Ökologie, Wohlstand und Frieden – und eine geniale Möglichkeit, globale Partnerschaften aufzubauen!